In zehn Antworten reflektiert der Maler Máté Orr auf HYPERMADE über psychologische Machtdynamiken, mittelalterliche Perspektiven und die stille Spannung zwischen Beobachten und Beobachtetwerden.
HYPERMADE: Lieber Máté, deine Arbeiten zeigen oft Momente von Kontrolle und Widerstand, in denen sich Rollen verschieben und Machtverhältnisse ins Wanken geraten. Was zieht dich an diesen psychologischen Strukturen an?
Máté Orr: Ich mag es, wenn zwei Menschen miteinander umgehen können, ohne dass einer versucht, den anderen zu dominieren. Das ist der Traum. Aber meiner Erfahrung nach geschieht das selten. Wir alle werden in ein Machtungleichgewicht hineingeboren: Ein Säugling ist völlig abhängig von seinen Eltern, um zu überleben, während das Umgekehrte nicht gilt. In unserem frühen Leben verbringen wir viel Zeit damit, Wege zu finden, mit dieser Erfahrung umzugehen. Gaslighting oder narzisstisches Verhalten kann man als kindliche Reaktionen auf dieses Ungleichgewicht sehen – Muster, die man als Erwachsener nur schwer wieder ablegt.
Ich bin in den 1990er Jahren in ländlichen Gegenden Ungarns aufgewachsen – damals wurde viel weniger über psychische Gesundheit gesprochen, und ich kannte die Konzepte oder Dynamiken, die die Psychologie beschreibt und über die heute oft geredet wird, überhaupt nicht. Aber ich habe sie erlebt. Ich habe schon früh viel gezeichnet und gemalt, oft Szenen mit Tieren oder Mischwesen geschaffen, die es mir ermöglichten, diese komplexen Prozesse zu erforschen. Ich glaube, ich hatte schon immer eine Sensibilität für solche Themen, und die Welt hat sich inzwischen so verändert, dass es heute leichter ist, darüber zu sprechen und nachzudenken.
HYPERMADE: Viele deiner Kreaturen wirken mythologisch, aber nicht mythisch – fast wie erfundene Archetypen. Denkst du bei deinen Figuren eher symbolisch, erzählerisch oder emotional?
Máté Orr: Ich denke, meine Figuren entspringen einem ähnlichen Ort wie Mythen. Jung sagte, „Mythen sind ursprüngliche Offenbarungen des vorbewussten Geistes.“ Sie sind Versuche, universelle Erfahrungen mithilfe von Geschichten voller kraftvoller Bilder zu begreifen. Das kann man als eine Art sehen, hoch emotionale Ereignisse zu verarbeiten, ohne das begriffliche Gerüst, das uns die moderne Psychologie heute liefert.

80 x 60 cm – Öl und Acryl auf Leinwand
Mit freundlicher Genehmigung von Máté Orr
HYPERMADE: Du kombinierst flache 2D-Silhouetten mit texturiertem Helldunkel. Was geschieht – in deinem Kopf – wenn diese beiden Systeme auf der Leinwand aufeinandertreffen?
Máté Orr: Ich arbeite mit dieser Kombination seit über einem Jahrzehnt. Ich habe ursprünglich Druckgrafik studiert, bevor ich mich auf Malerei konzentrierte, und diese Ausbildung hat mir ein Gespür für die unterschiedlichen Texturen und emotionalen Wirkungen verschiedener Darstellungsweisen vermittelt. Ein Holzschnitt fühlt sich völlig anders an als ein Siebdruck oder die fließenden Spuren der Lithografie.
Als ich während meiner Studienzeit in Norditalien unterwegs war, war ich fasziniert von Werken aus der Übergangszeit zwischen Mittelalter und Renaissance. Sassetta, Giotto, Fra Angelico – sie alle experimentierten mit damals ungewohnten realistischen Darstellungen des menschlichen Körpers und von Kleidung und begannen, sich mit Perspektive auseinanderzusetzen. Als ich die Fresken der Lorenzetti in Siena sah, wurde mir klar, dass diese Kombination Bilder erzeugt, die auf dem schmalen Grat zwischen realistisch und symbolisch balancieren. Genau dieses fragile Gleichgewicht strebe ich in meinen Bildern an. Die silhouettenhaften Formen stören die Lesart einer Szene als reales Ereignis an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit.
HYPERMADE: Du hast den Einfluss von Lorenzetti und mittelalterlicher Perspektive erwähnt. Welche Rolle spielt Kunstgeschichte bei deinen visuellen Entscheidungen?
Máté Orr: Ich glaube, dass Bildende Kunst einzigartig darin ist, ein direktes sinnliches Gedächtnis der Wahrnehmung des Künstlers zu bewahren – etwas Intimes und Dauerhaftes. Musik und Literatur halten menschliche Erfahrung zwar auch fest, aber durch Aufführung oder Sprache, die stärker von Zeit, Kultur und Interpretation geprägt sind. Ein Gemälde oder eine Zeichnung lässt uns dagegen oft Jahrhunderte später noch das sehen, was der Künstler gesehen hat, fast ohne Vermittlung. Wir werden nie wissen, wie Bach unter seinen eigenen Händen klang, aber wir können noch immer die Fliege auf Giovanna Garzonis Zitronenschale oder das Licht auf Weenix’ Schwanenfedern sehen – genau wie sie es taten.
Für mich geht es in der Kunstgeschichte weniger darum, ein Werk in einen historischen oder kulturellen Rahmen einzuordnen. Marseus van Schrieck war es wichtig, Eidechsen und Mäuse im Unterholz zu malen – das zeigt mir, dass es sich lohnt, auch übersehene Dinge in banalen Zusammenhängen interessant zu finden. Ich sehe in der Kunstgeschichte ein Protokoll dessen, wie das früher gemacht wurde.
HYPERMADE: Die Welten, die du darstellst, sind still, aber nicht passiv. Was ermöglichen dir Stille und Bewegungslosigkeit auszudrücken, was Worte oder Erzählung nicht leisten können?
Máté Orr: Wenn ich meine Figuren erschaffe, möchte ich, dass sie sich dessen bewusst sind, was um sie herum geschieht. Ihre Augen sind oft weit geöffnet – sie beobachten einander oder blicken manchmal direkt den Betrachter an. Der Betrachter ist nicht allein beim Betrachten des Bildes – auch die Figuren beobachten. Alle sind aufmerksam.
Ich mache für jedes Bild viele Skizzen und Studien, und wenn ich mit der Leinwand beginne, steht schon fest, was wohin kommt. Das erlaubt mir, große, ununterbrochene monochrome Flächen zu schaffen. So gibt es kaum visuelles Rauschen, das von der Szene ablenkt. Diese Ruhe fördert, denke ich, die Konzentration und schafft Raum für tiefere Selbstreflexion.

130 x 180 cm – Öl und Acryl auf Leinwand
Mit freundlicher Genehmigung von Máté Orr
HYPERMADE: Spürst du das Bedürfnis, die Bedeutung deiner Bilder zu erklären – oder gehört Mehrdeutigkeit zum Konzept?
Máté Orr: Was als Mehrdeutigkeit empfunden wird, ist für mich eher das Nebeneinander von Eigenschaften, die normalerweise nicht miteinander verbunden werden. Eine Ente, die zurückbeißt, wenn sie angegriffen wird, zeigt durch ihr bloßes Enten-Sein Verletzlichkeit – sie ist Beute für viele Tiere und wird oft gejagt – aber zugleich zeigt sie, dass sie sich zur Wehr setzen kann, indem sie kämpft.
Mein Ziel ist es nicht, zu verwirren, sondern automatische Annahmen infrage zu stellen, damit differenziertere Einsichten an deren Stelle treten können. In diesem Sinn ist Mehrdeutigkeit durchaus Teil des Konzepts. Ich werde oft gefragt, warum meine Figuren tun, was sie tun, und ich erkläre das auch gern. Aber ich glaube gleichzeitig, dass die Szenen eine innere Logik haben, die sich auch ohne viele Worte erschließen lässt.
HYPERMADE: Wann weißt du, dass eine Skizze das Potenzial für ein fertiges Bild hat? Was löst diese Entscheidung aus?
Máté Orr: Diese Entscheidung ist völlig intuitiv, was es schwer macht, sie zu beschreiben. Ich mache im Laufe eines Jahres Hunderte Skizzen – sehr einfache Entwürfe für mögliche Bilder. Normalerweise lege ich sie erst mal weg, für eine Art Inkubationszeit, die von ein paar Stunden bis zu mehreren Jahren dauern kann. Hin und wieder schaue ich sie mir erneut an, versuche sie wie fremde Arbeiten zu betrachten, und achte darauf, was den stärksten Eindruck hinterlässt – konzeptionell, emotional und visuell. Manchmal möchte ich einfach nur einen Hahn malen, der wie ein Tiger aussieht. Ich glaube, diese Entscheidung speist sich aus Büchern, Nachrichten, Filmen, Werbung – also aus all meinen persönlichen Erlebnissen, Vergangenheit und Gegenwart.
Wenn ich mich entschieden habe, entwickle ich die Idee ausführlich weiter, spiele mit mehreren Versionen, bevor ich mich für die beste entscheide und sie auf Leinwand übertrage. Meist verstehe ich dabei auch, warum mich diese Szene angesprochen hat – welche persönliche Relevanz sie hatte.
HYPERMADE: Deine Kompositionen zeigen oft gleichzeitig Konflikt und Zärtlichkeit. Sind diese Gegensätze beabsichtigt – oder unvermeidlich?
Máté Orr: Gabor Maté, der ungarisch-kanadische Arzt, sagt, dass die zwei Grundbedürfnisse jedes Menschen Verbindung und Autonomie sind. Das erste erfordert die Fähigkeit zur Verletzlichkeit, das zweite zur Selbstbehauptung. Die Psychologie liefert uns Werkzeuge, um das intellektuell zu begreifen, aber Kunst, Filme und Geschichten lassen uns in diese Erfahrungen eintauchen. Sie machen abstrakte Einsichten fühlbar, nachvollziehbar, erinnerbar.
Ich merke, dass ich versuche, Figuren zu schaffen, die sich Bedrohungen nicht beugen und zugleich in der Lage sind, standzuhalten und andere mit Neugier zu betrachten.

150 x 120 cm – Öl und Acryl auf Leinwand
Mit freundlicher Genehmigung von Máté Orr
HYPERMADE: Was war deine technisch oder emotional herausforderndste Arbeit – und was hast du daraus gelernt?
Máté Orr: „Milch“ war definitiv eines der anspruchsvolleren Werke – sowohl technisch als auch emotional. Bis vor ein paar Jahren spielte sich das meiste in meinen Bildern in undefinierten Innenräumen ab. Inzwischen tauchen zunehmend Landschaften auf.
Aber die Bildsprache, die ich entwickelt habe, passt nicht leicht zur Darstellung von Landschaft. Die Größe und das Drama eines Vulkans mit weitgehend monochromen Flächen – nur Schwarz, Weiß und Grau – einzufangen, war eine spannende Aufgabe.
Die Hauptfigur ist eine Tigerin: kraftvoll, bedrohlich, aber zugleich fürsorglich. Die beiden anderen Figuren reagieren ganz unterschiedlich auf ihre Präsenz am Tisch. Auf den ersten Blick scheint die Gazelle ihr zum Opfer zu fallen – aber bei genauerem Hinsehen nutzt sie die Situation, um von der Tigerin zu saugen. Die dritte Figur verhält sich so, als sei alles ganz normal – was an sich schon eine starke Reaktion ist.
Die genaue Ausbalancierung dieser emotionalen Dynamiken hat viel Zeit und viel Einfühlungsvermögen gebraucht.
HYPERMADE: Was ermöglicht dir die Malerei über dich selbst oder das Menschsein zu erforschen – was kein anderes Medium kann?
Máté Orr: Als Kind hatten wir ein Buch mit Standbildern aus Zeffirellis „Jesus von Nazareth“. Auf einem Bild sieht man Jesu Hand mit einem Nagel darauf und einen Hammer, der gleich zuschlägt. Ich erinnere mich, dass ich dieses Bild lange anschaute und von der Gewalt darin Gänsehaut bekam. Ich habe den Film vermutlich auch gesehen – aber es war das Standbild, das blieb.
Eine besondere Eigenschaft von Bildern – also auch von Fotografie und Malerei – ist, dass sie Szenen außerhalb der Zeit zeigen. Musik, Film, Literatur, Tanz – sie alle entfalten sich über eine Zeitspanne. Ein Gemälde vermittelt seine Aussage sofort. Und es tut das dauerhaft, im Gegensatz zu Bildschirmen, die man einschalten und laden muss. Ein Bild ermöglicht es, etwas zu betrachten, das im echten Leben flüchtig wäre und verloren ginge.
Selbstbeobachtung – das Reflektieren über unser eigenes Verhalten – ist nie einfach. Meine Figuren befinden sich in schwierigen, komplexen emotionalen Situationen. Sie zu beobachten, macht es uns vielleicht ein wenig leichter, uns selbst zu beobachten.
HYPERMADE: Danke, Máté, für deine Zeit, deine Gedanken – und dein leises Beharren auf Tiefe.

die zwischen surrealer Erzählung und popkultureller Symbolik oszillieren
Mit freundlicher Genehmigung von Máté Orr
Máté Orr ist ein ungarischer Maler, der in Budapest lebt. Mit einem Hintergrund in der Druckgrafik und einem tiefen Interesse an psychologischen Dynamiken vermischt sein Werk surreale Bilder, symbolische Kompositionen und kunsthistorische Referenzen. Seine Gemälde zeigen oft hybride Kreaturen und ruhige, zweideutige Begegnungen und erforschen Themen wie Kontrolle, Verletzlichkeit und emotionale Konflikte. Orr arbeitet hauptsächlich mit Öl und Acryl auf Leinwand und schafft Szenen, die sowohl akribisch konstruiert als auch offen für Interpretationen sind – poetisch, seltsam und subtil konfrontativ. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht eine sanfte, aber beharrliche Herausforderung: Treffen wir bewusste Entscheidungen – oder wiederholen wir nur, was uns vertraut erscheint?