In sechs Teilen erzählt August Zirner auf HYPERMADE von Sprache, Verantwortung und dem feinen Unterschied zwischen Ausdruck und Wirkung.
HYPERMADE: Erleben Sie Amerika heute noch als Teil Ihrer Identität – oder ist es Ihnen fremd geworden?
AUGUST ZIRNER: Es hilft nichts, ich bin und bleibe Amerikaner. Ich bin bis zu meinem 17. Lebensjahr dort gewesen. Meine Kindheit war überwiegend amerikanisch geprägt. Durch die Schule sowieso. Amerika wird mir aber fremd; aber mir werden andere Länder, in denen ich gelebt habe, auch fremd – Österreich zum Beispiel. Meine Heimat heißt, glaube ich, die Diaspora. Wobei Diaspora altgriechisch „Zerstreuung, Verstreutheit“ heißt. Ich fürchte, auf mich passt doch auch sehr Zerstreutheit. Diaspora würde für mich auf Englisch so viel heißen wie: „Home away from Home“. Das kann überall sein, ist aber gelegentlich ziemlich anstrengend.
HYPERMADE: Sie sind in Urbana, Illinois, aufgewachsen – in einer liberalen, ästhetisch geprägten Universitätswelt. Lange Zeit hielten Sie das für das wahre Amerika. Wie haben Sie diesen Glauben verloren – und was ist davon in Ihnen geblieben?
AUGUST ZIRNER: Als ich für ARTE die Reihe „Ein Mann, ein Hund, ein Pick-up-Truck – auf der Spur von John Steinbeck“ gedreht habe, habe ich (ähnlich wie John Steinbeck) Amerika von einer ganz anderen Seite erlebt, als ich es sonst kannte. Ich habe gemerkt, ich bin in der Zwischenzeit doch Europäer geworden. Ich ertrage eine gewisse „isolationistische“ Mentalität nur schwer. Trotzdem war die Welt in Urbana, wo ich aufgewachsen bin (wenn auch ein Elfenbeinturm), aber doch auch wahnsinnig schön. Wirklich liberal und neugierig waren die Menschen dort. Aber es waren eben auch sehr viele Immigranten. Aber Amerika ist sehr, sehr groß; von der Ost- bis zur Westküste herrschen große Unterschiede.
HYPERMADE: Ihr Vater starb, als Sie 14 waren. Gibt es Momente in Ihrer Arbeit – auf der Bühne oder in der Musik –, in denen dieser Verlust wieder gegenwärtig wird?
AUGUST ZIRNER: Ja, natürlich. Als ich den Sprecher in der Kaddish-Symphonie von Leonard Bernstein in Wien im Musikverein gemacht habe, habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht als, dass mein Vater dabei sein könnte. Im Wiener Musikverein! Leonard Bernstein! Ich als Sprecher, der mit den Worten anfängt: „Oh, mein Vater, uralte, weißhaarige graue verbitterte Existenz, ich möchte beten, ich möchte Kaddish sagen, mein eigenes Kaddish!“ Bei den Worten musste ich mich ziemlich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Zum Glück wusste ich, dass der Sprecher im Takt der Musik bleiben muss. Dadurch, dass ich „zählen“ musste, sind mir und dem Publikum die Tränen erspart geblieben. Ein paar Jahre später habe ich dann Nathan den Weisen in München am Volkstheater gespielt. Es wurden zu guter Letzt 120 Vorstellungen, und vor jeder Vorstellung habe ich an meinen Vater gedacht und war irgendwie neugierig, was er darüber denken würde. Ob er meine Sichtweise auf den Nathan teilt.
HYPERMADE: In Ihrem Buch Ella & Laura – Von den Müttern unserer Väter geben Sie zwei Frauen eine Stimme, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Welche Kraft liegt für Sie darin, Vergessenes oder Verschwiegenes zur Sprache zu bringen – gerade wenn es um Familie geht?
AUGUST ZIRNER: Ich muss Sie da etwas korrigieren, ich habe nur der Ella, meiner Großmutter, eine Stimme versucht zu verleihen. Die andere Stimme, die von der Laura, hat ja die Ana geschrieben. Wenn Ana und ich Lesungen von dem Buch machen, werden wir immer wieder von Zuschauern angesprochen, die anfangen, ihre Familiengeschichten uns zu erzählen. Ich glaube, viele Menschen haben ein Bedürfnis, über ihre Herkunft und über ihre Familien mehr zu wissen. Vergessenes und Verschwiegenes zur Sprache zu bringen, finde ich gesund. Ich glaube, viel mehr Menschen haben ein Bedürfnis danach, als sie es möglicherweise zugeben.
HYPERMADE: Das Modehaus Ihrer Großmutter Ella Zirner-Zwieback wurde von den Nationalsozialisten enteignet. Wenn Sie das Gebäude heute sehen, sprechen Sie von Verachtung. Ist dieser Blick auf ein konkretes Haus für Sie ein Symbol für kulturellen Verlust – oder eher ein persönlicher Resonanzkörper der Geschichte?
AUGUST ZIRNER: Beides. Sowohl ein Symbol von kulturellem Verlust und kulturellem Verfall als auch ein Gebäude, das mich in meine Familiengeschichte hineinrüttelt. Die behäbige, schwerfällige Art und Weise, wie die heutigen Eigentümer versucht haben, mir Informationen vorzuenthalten, kann mich immer noch ärgern – aber dazu habe ich keine Lust mehr. Wenn man sich den Ort von außen anschaut, spricht eine eigene Dekadenz der Geschichte. Geschäfte wie Apple Store, Mostly Mozart, Klimt-Impressionen sprechen eine Sprache für sich. Es hat aber auch eine skurrile, dekadente Komik.
HYPERMADE: Wie verändert es den Blick auf die eigene Herkunft, wenn man mit der Geschichte eines anderen lebt – etwa mit der des Großvaters, dessen politische Haltung umstritten war?
AUGUST ZIRNER: Mich beschäftigt viel eher, wie lange es bei mir gebraucht hat, überhaupt zu merken, dass ich ein fragwürdiger Mensch und Künstler bin. Fragwürdig im Sinne von: verantwortlich für mich selber und für das, was ich zum Ausdruck bringe.
HYPERMADE: Kann man sich von einer Geschichte emanzipieren, ohne sie abzuwerfen? Oder gehört es zum Erwachsenwerden, eine Last zu tragen?
AUGUST ZIRNER: Ich glaube nicht, dass man Geschichte abwerfen kann, aber emanzipieren kann man sich schon. Auch wenn sie immer wieder angezweifelt wird, finde ich Erinnerungskultur wahnsinnig wichtig. Es gibt nichts abzuwerfen – wie soll das denn gehen, außer möglicherweise dadurch, die Geschichte anzuschauen? Wissen und traurige Selbsterkenntnis sind vielleicht die Folgen, aber besser als Verblöden.
HYPERMADE: Ihr Beruf ist, wie Sie selbst sagen, der Umgang mit Worten. Gleichzeitig erwähnten Sie, dass Sprache der Musik manchmal eine Richtung geben könne. Wann ist ein Satz für Sie gelungen – wenn er etwas sagt oder wenn er etwas andeutet?
AUGUST ZIRNER: Ich liebe Ambivalenz.
HYPERMADE: Wie gelingt es, ein Leben nicht nur zu leben, sondern – wie Sie formulierten – zu gestalten, in Verbindung mit sich selbst? Ist das eine tägliche Aufgabe – oder ein innerer Kompass?
AUGUST ZIRNER: Das ist tatsächlich eine tägliche Aufgabe, an der ich täglich scheitere. Den inneren Kompass suche ich auch schon seit Ewigkeiten.
Nachklang
Erinnerung ist kein Zurück – sondern ein Durchdringen. In August Zirners Worten wird deutlich: Herkunft ist kein Schicksal, sondern ein Material. Und ihr Umgang: eine Gestaltung – zwischen Ernst, Zweifel und dem Wunsch, wahrhaftig zu bleiben.