In sechs Teilen erzählt August Zirner auf HYPERMADE von Sprache, Verantwortung und dem feinen Unterschied zwischen Ausdruck und Wirkung.
HYPERMADE: Sie haben über Ihren Großvater einmal gesagt, dass es keine Eindeutigkeit gibt, kein Schwarz und Weiß – und dass genau dieses Dazwischen das Schwierige ist. Wie geht man als Mensch, als Künstler, mit einer Herkunft um, die sich einer eindeutigen moralischen Bewertung entzieht? Ist das Aushalten dieser Ambivalenz selbst eine Form von Verantwortung?
AUGUST ZIRNER: Aushalten von Ambivalenz fordert auf jeden Fall einen Begriff von Verantwortung. Ich finde eindeutige moralische Bewertung von historischen Prozessen aber problematisch. Erstens mal reicht Moral als Begriff gar nicht; entscheidender wäre Ethik, und die ist eine Frage des Gewissens. Aber wie soll man die beurteilen? Aber aus der Perspektive von wirklich verantwortungsvollem, gewissenhaftem Handeln kann man Menschen schon betrachten.
Da wird es für mich schon schwieriger mit meinem Großvater. Ihm gerecht zu werden oder ihm gegenüber gerecht zu sein. Fairerweise könnte man sagen, dass die Art und Weise, wie er streng nach dem Zweiten Weltkrieg beurteilt wurde, irgendwie dem Richard Strauss erspart geblieben ist. Man könnte das als ungerecht bezeichnen.
Richard Strauss hat sich mit Sicherheit viel fragwürdiger im Nationalsozialismus verhalten als Franz Schmidt. Und jetzt kommt die Nachkriegsgeschichtsschreibung erschwerend hinzu. Natürlich könnte man gerechterweise sagen: Richard Strauss war halt der bessere Komponist. Aber was heißt das schon? Übrigens finde ich nicht, dass man als Mensch oder als Künstler sich seiner Herkunft entziehen sollte.
HYPERMADE: Das Trompetensolo in der 4. Sinfonie Ihres Großvaters Franz Schmidt haben Sie als musikalisches Schlüsselerlebnis beschrieben – einen Moment der Versöhnung. Was genau klingt in Ihnen nach, wenn Sie dieses Solo hören?
AUGUST ZIRNER: Merkwürdigerweise konnte ich das Trompetensolo nach nur zweimaligem Hinhören auf der Flöte auswendig. Möglicherweise hat Franz Schmidt seine großväterliche Hand ein bisschen nach mir ausgestreckt. Die vierte Sinfonie hat Franz Schmidt ja als Requiem für seine Tochter Emma komponiert. Das fand ich schon mal interessant. Seine Tochter starb bei der Geburt ihres ersten Kindes.
Die 30 Töne des Trompetensolos, die auch als Motiv durch die ganze Sinfonie gehen, strahlen für mich etwas Trauriges aus. Die Tonfolge ist sehr ungewöhnlich für ihn. Für mein Empfinden ist Traurigkeit nicht unbedingt eine Emotion, die im Schmidtschen Werk unbedingt vorkommt. Eher schwülstige Motive. Aber ich finde Traurigkeit sehr wichtig. Das kommt vielleicht daher, dass ich im Grunde genommen die Bluestonleiter wie verinnerlicht habe.
HYPERMADE: Gibt es Züge in seinem Werk oder in seiner Persönlichkeit, die Ihnen heute näherstehen als damals – vielleicht sogar vertraut sind?
AUGUST ZIRNER: Nein. Aber ich bin auch kein Komponist.
HYPERMADE: Können Sie sich vorstellen, sich künstlerisch mit seinem Werk auseinanderzusetzen – sei es durch eine Inszenierung, eine Lesung, eine Bearbeitung? Und wenn ja: Was müsste geschehen, damit dieser Impuls entsteht?
AUGUST ZIRNER: Ich finde die Einspielungen der vier Sinfonien von Jonathan Berman sehr interessant. Im Gegensatz zu vielen anderen Dirigenten geht er sehr emotional vor. Mit ihm würde ich gerne versuchen, sowas wie ein Franz-Schmidt-Melodram zu konzipieren. Briefe, auch Briefe mit fragwürdigem Inhalt, gepaart mit seiner Musik.
HYPERMADE: In Schmidts Musik, so sagten Sie, höre man die Unruhe der Zwischenkriegszeit, eine Epoche zwischen Aufbruch und Erstarrung. Gibt es darin Parallelen zur Gegenwart – nicht zuletzt mit Blick auf Ihre amerikanische Heimat? Spüren Sie heute in der Kunst wieder eine ähnliche Spannung – ein Echo der gesellschaftlichen Kälte, gegen die es künstlerisch anzuspielen gilt?
AUGUST ZIRNER: Leider ja.
Nachklang
Vielleicht ist es diese leise Spannung zwischen Tönen und Themen, die August Zirner meint, wenn er von Musik, Geschichte und Verantwortung spricht – ein Lauschen auf das, was nicht eindeutig ist.